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Selbstbehauptung im Ghetto: Gerty Spies

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Porträtfoto von Gerty Spies aus deren Münchener Kennkarte, 1939 (Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-KKD-4001-01)

Gerty Spies (1897–1997) wird Ende des 19. Jahrhunderts als Gertrud Gumprecht in eine bürgerlich-liberale jüdische Familie in Trier hineingeboren. Nach der einvernehmlichen Scheidung von ihrem nicht-jüdischen Ehemann zieht sie Ende der 1920er Jahre mit ihrer damals sechsjährigen Tochter Ruth nach München.

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Transportliste von Transport II/18 nach Theresienstadt (Yad Vashem, O.64.2/WSZ.2)

Nach 1933 Jahren schützt sie die Mutterschaft eines „halbarischen“ Kindes zunächst noch vor den schlimmsten antijüdischen Repressalien des NS-Regimes. So muss sie zwar ab 1939 Zwangsarbeit in einem Münchner Verlag leisten, entgeht aber den ersten Deportationen aus München im Herbst 1941 und Frühjahr 1942. Im Sommer 1942 erhält sie schließlich doch die Anweisung zur Deportation und wird am 22. Juli mit dem Transport II/18 nach Theresienstadt verschleppt.

Theresienstadt

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Das ehemalige Gestapogefängnis in Theresienstadt, 1964 (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-C0716-0049-019 / Fotograf/in: Ludwig)

Das Ghetto Theresienstadt wird im Mai 1942 als „Sonderghetto“ für „privilegierte“ Jüdinnen und Juden eingerichtet. Die vordergründig besseren Bedingungen dienen den Nationalsozialisten vor allem zu Propagandazwecken und zur Verschleierung ihres Völkermordes. In Wirklichkeit sind die Verhältnisse kaum besser als in anderen deutschen Ghettos, Sammel- und Konzentrationslagern. 

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Skizze eines Quartiers in Theresienstadt, vermutlich von Bernhard Marcuse – Marcuse wurde im August 1942 aus Berlin nach Theresienstadt deportiert und dort am 26. Dezember 1943 ermordet (IfZArchiv, ED 102-1-265)

Überfüllte Quartiere, Mangelernährung, katastrophale sanitäre Verhältnisse und eine desolate Gesundheitsversorgung treiben die Sterblichkeit in die Höhe. Für fast 90.000 Jüdinnen und Juden ist Theresienstadt nur eine Durchgangsstation in die Gaskammern von Auschwitz. Gerty Spies entgeht dem Weitertransport nach Osten, weil sie in der als kriegswichtig geltenden „Glimmerwerkstatt“ Isolierplättchen für die deutsche Rüstungsindustrie herstellt.

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Gedicht von Gerty Spies (IfZArchiv, ED 102-1-14)

Inmitten des unermesslichen menschlichen Leides beginnt Gerty Spies, Gedichte zu schreiben – und überlebt die menschenverachtenden und lebensbedrohlichen Bedingungen in Theresienstadt auch dank ihrer geistigen und emotionalen Widerstandsfähigkeit. Zunächst ruft sie sich in ihren Gedichten vor allem die Schönheit der Natur in Erinnerung und verarbeitet die Trennung von ihrer in München zurückgebliebenen Tochter literarisch.

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Notizbuch, in dem Gerty Spies im Ghetto ihre ersten Gedichte niederschrieb (Foto: IfZArchiv, ED 102/1)

Im Laufe der Zeit thematisiert sie in ihrer Lyrik jedoch auch zunehmend ihre eigene Hunger-, Elends- und Leidenserfahrung ebenso wie die ihrer Mitmenschen. Trotz Papierknappheit ist Gerty Spies unglaublich produktiv: Im Nachlass sind Hunderte Zettel und Zettelchen mit Gedichten, Gedichtentwürfen und Liedtexten enthalten. 

Rückkehr nach München und literarische Verarbeitung

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Der erste Gedichtband von Gerty Spies erschien 1947 (Titelblatt aus dem Bestand der IfZ-Bibliothek, Signatur 17.1050).

Im Juni 1945 kehrt Gerty Spies nach München und zu ihrer Tochter zurück. In der Nachkriegszeit engagierte sie sich für andere Überlebende im „Bayerischen Hilfswerk für die durch die Nürnberger Gesetze Betroffenen“1947 veröffentlichte sie ausgewählte Gedichte aus ihrer Zeit in Theresienstadt. Ihre autobiografischen Aufzeichnungen „Drei Jahre Theresienstadt“ fanden in den 1950er Jahren keinen Verleger. Ende der 1950er Jahre konnte sie wenigstens einen literarischen Erinnerungsbericht in der Zeitschrift „Hochland” veröffentlichen (Wie ich es überlebte, Ein Dokument, in: Hochland 50, 1958, Nr. 4, S. 350–60).

Kontakt zum IfZ

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Der gelbe Judenstern von Gerty Spies (Foto: IfZArchiv, ED 102/2)

Im Juli 1967 nimmt Gerty Spies Kontakt zum Institut für Zeitgeschichte auf. Sie sende, so schreibt sie „einige Papiere, Zeugen meiner Vergangenheit“, darunter ein Tagebuchfragment vom September 1944, zur weiteren Verwahrung und wissenschaftlichen Auswertung. Der Bestand erhält die Signatur ED 102. Neben zahlreichen Gedichten sind außerdem enthalten: der gelbe Judenstern von Gerty Spies, ihre Armbinden, ein Arbeitsausweis und Bezugsscheine aus Theresienstadt, Briefe an die Tochter aus den Jahren 1944/45 sowie einige Unterlagen aus der Zeit vor der Deportation und nach der Rückkehr nach München.

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Autobiografie von Gerty Spies (Foto des Covers aus dem Bestand der IfZ-Bibliothek, Signatur F 5405)

Erst in den 1980er Jahren veröffentlicht Gerty Spies ihre Autobiografie sowie einen weiteren Gedichtband. 1992 erscheint ihre Erzählung „Das schwarze Kleid“.

Die Münchnerin wird nun einem breiteren Publikum bekannt, erhält Literaturpreise und 1987 das Bundesverdienstkreuz. Am 10. Oktober 1997, mit 100 Jahren, stirbt Gerty Spies in München.

Aus dem Archiv

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Münchener Kennkarte von Gerty Spies, 1939 (Foto: Stadtarchiv München, DE-1992-KKD-4001-01)

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Colorierte Zeichnung der Festung Theresienstadt, vermutlich von Bernhard Marcuse (IfZArchiv, ED 102-1-260)

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Anfang 1945 verfasste Gerty Spies ein launiges Gedicht über den „Glimmer", illustriert von A. Gutfeld (IfZArchiv, ED 102-1-409).

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Zweite Seited es Gedichts von Gerty Spies über den „Glimmer", illustriert von A. Gutfeld (IfZArchiv, ED 102-1-410).

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Armbinde, Arbeitsausweis und Bezugsscheine von Gerty Spies aus dem Ghetto Theresienstadt (Foto: IfZ-Archiv, ED 102/2)

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Gerty Spies lebte in Theresienstadt zeitweise in diesem Haus – Skizze vermutlich von Bernhard Marcuse (IfZ-Archiv, ED 102-1-257).