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„Musste dringend fort“: Der Fall Carl Magnus Lichtwer

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Foto: Bundesarchiv, Bild 183-76892-0001

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zielen die sowjetischen Besatzer in ihrer Besatzungszone und der späteren Deutschen Demokratischen Republik (DDR) auf eine politische und gesellschaftliche Neuorientierung nach marxistisch-leninistischen Vorstellungen ab. Dabei kommt den Hochschulen für die Ausbildung der künftigen sozialistischen Intelligenz große Bedeutung zu. Das Hochschulwesen in der SBZ/DDR wird von den kommunistischen Machthabern dementsprechend radikal umgebaut: Die rechtlichen Rahmenbedingungen werden verändert, Lehrkörper und Studierendenschaft gesäubert und politische Kriterien für die Zulassung eingeführt.

Studentischer Widerstand

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Ausgaben der Studierendenzeitschrift „Colloquium“ von 1948 und 1956 (IfZArchiv, Z 2616)

Die Studierenden nehmen die einschneidenden Änderungen nicht ohne Weiteres hin: So kritisiert beispielsweise die 1947 an späteren Humboldt-Universität gegründete Studentenzeitschrift „Colloquium“ mehrfach offen die kommunistische Hochschulpolitik. 

Nach Entzug der Studienerlaubnis in der SBZ engagieren sich die drei Herausgeber, Otto Hess, Otto Stolz und Joachim Schwarz, für die Gründung der Freien Universität im Westteil der Stadt 1948. Sie führen das „Colloquium“ dort weiter und veröffentlichen regelmäßig Informationen zur Entwicklung an den Hochschulen in der SBZ/DDR, die sie von Kontakten zu ostdeutschen Studierenden erhalten. 

Kontakte zu westdeutschen Universitäten sind in der DDR ausdrücklich untersagt; die Freie Universität gilt den Machthabern gar als Agentenzentrale. Der Informationsaustausch mit „Colloquium“ ist daher ein Akt des Widerstands.

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Ausschnitt aus der West-Berliner Studentenzeitung „Colloquium", die 1951 und 1952 jeden Monat Namenslisten der in der DDR verhafteten Studierenden und Dozierenden veröffentlichte (Colloquium 10/1952).

Studierende, die solche und andere Kontakte unterhalten, geraten unter Spionageverdacht und damit ins Visier der DDR-Staatssicherheit, werden verhaftet oder verschwinden einfach spurlos. 

Anfang der 1950er Jahre veröffentlicht das „Colloquium“ unter der Rubrik „Vergesst sie nicht!“ regelmäßig die Namen von Verhafteten und Verschleppten. Das an der Freien Universität angesiedelte Amt für gesamtdeutsche Studentenfragen im Verband Deutscher Studentenschaften (VDS) registriert für die Zeit von 1949 bis 1961 über 900 Verhaftungen von Hochschulangehörigen. Die meisten von ihnen werden wegen “Boykotthetze”, Spionage und Verbreitung von Propaganda angeklagt und mehrheitlich zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.

Carl Magnus Lichtwer

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Carl Magnus Lichtwer studiert seit 1949 Landwirtschaftswissenschaften an der Universität Jena (Foto: Bundesarchiv, Bild 183-64523-0003 / Fotograf(in): Richter).

Einer dieser Verfolgten ist Carl Magnus Lichtwer (1928–1984), der seit 1949 Landwirtschaftswissenschaften an der Universität Jena studiert. Lichtwer wird bei einem Berlin-Besuch von der FU-Studentenzeitung „Colloquium“ als Informant angeworben. Er liefert den Herausgebern mehrfach Informationen zu Entwicklungen an der Universität Jena und führt die Zeitschrift sowie verschiedenen Flugblätter in die DDR ein. 

„Musste dringend fort“

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Bei seiner Verhaftung hinterließ Carl M. Lichtwer eine kurze Notiz an seinen Bruder: Die Worte „Lieber Bernhard, Musste dringend fort. Carl“ bleiben bis Anfang Juli das einzige Lebenszeichen des Verhafteten an seine Familie. (IfZArchiv, ED 663/1)

In den frühen Morgenstunden des 31. März 1952 wird Lichtwer in seinem Jenaer Studentenzimmer vom Staatssicherheitsdienst der DDR verhaftet. Er ist damit Teil einer regelrechten Verhaftungswelle ostdeutscher Studierender zwischen 1951 und 1953, von der allein an der Universität Jena über 30 Studierende erfasst werden.

Lichtwers Familie erfährt von einer Mitbewohnerin von der Verhaftung. In seinem Zimmer findet sich außerdem eine schnell hingekritzelte, kryptische Notiz: „Musste dringend fort.“ Über die genauen Umstände und die Gründe der Verhaftung sowie den Aufenthaltsort des Sohnes und Bruders bleibt die Familie monatelang im Ungewissen. Erst am 5. Juli trifft im Elternhaus eine Postkarte des Verhafteten aus der Volkspolizei-Haftanstalt Dresden ein. Die Haftgründe werden der Familie weiterhin nicht mitgeteilt. 

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In einem Brief vom 4. August 1952 schildert Charlotte Lichtwer den Schauprozess gegen ihren Sohn (IfZArchiv, ED 663/1).

Im Juli 1952 wird Carl Magnus Lichtwer zusammen mit neun weiteren Studierenden wegen “Boykotthetze”, Spionage und Verbreitung von Propaganda angeklagt. Lichtwers Mutter Charlotte, die dem Prozess beiwohnen kann, beschreibt die Verhandlung als Schauprozess. Kontakte zur West-Berliner Studierendenkreisen, die Weitergabe von Berichten über die Verhältnisse an ostdeutschen Universitäten und die Einfuhr westlicher Drucksachen bringen allen Angeklagten mehrjährige Haftstrafen ein. 

Carl Magnus Lichtwer erhält eine zehnjährige Zuchthausstrafe, die er ab 11. August zunächst in der berüchtigten Haftanstalt Bautzen I, ab April 1954 in Waldheim, schließlich ab Herbst 1955 in Luckau verbringt.

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Einen Teil seiner Haftstrafe verbringt Carl Magnus Lichtwer von August 1952 bis April 1954 in der berüchtigten Haftanstalt Bautzen I. (Foto: Bildarchiv der Bundesregierung, Bild 797)

Carl Magnus Lichtwer erhält eine zehnjährige Zuchthausstrafe, die er ab 11. August zunächst in der berüchtigten Haftanstalt Bautzen I, ab April 1954 in Waldheim, schließlich ab Herbst 1955 in Luckau verbringt.

Briefe aus der Haft

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Brief von C.M. Lichtwer aus der Haft in Bautzen vom November 1952 (IfZArchiv, ED 663/1)

Während seiner Haft unterhält Carl Magnus Lichtwer im Rahmen der eng gesetzten Postempfangsregeln der Haftanstalt einen regen Briefwechsel mit seiner Familie, nimmt Anteil am Leben seiner Eltern und Geschwister, schöpft Kraft aus deren Zuspruch. So schreibt er im Mai 1954: „Eure Erlebnisse und Freuden, sowie alle Beweise unseres innigen und harmonischen Familienlebens stärken mich, stimmen mich so munter und zuversichtlich.“ Die regelmäßigen Lebensmittelpakete der Familie mildern die ansonsten desolate Ernährungslage im Gefängnis. 

Ungewohnte Freiheit

Am 28. Februar 1957, knapp 5 Jahre nach seiner Verhaftung, wird Carl Magnus Lichtwer vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen. Die Wiedereingliederung fällt ihm, wie vielen anderen ehemaligen Häftlingen, nicht leicht. Am 27. März 1957 schreibt er an seinen Bruder: „Es ist ungewohnt, gewohnte Grenzen wegzudenken.“ Nach fünf Jahren Abwesenheit nimmt er die gesellschaftlichen Veränderungen und die einsetzenden Rückzugsbewegungen vieler Menschen in den Privatbereich besonders stark wahr. Wenig später verlässt Carl Magnus Lichtwer die DDR und zieht nach Kiel, wo er sein in Jena unterbrochenes Landwirtschaftsstudium wieder aufnimmt. Nach dem Diplomabschluss ist er für die Landwirtschaftliche Rentenbank in Frankfurt/Main tätig.

Der Teilnachlass im IfZ-Archiv
 

Das IfZ-Archiv sammelt spätestens seit den 1980er Jahren gezielt private Unterlagen zur Geschichte der DDR. Seit 2012 bereichern die Unterlagen zum Fall des 1984 verstorbenen Carl Magnus Lichtwer diesen Sammlungsbereich. Der kleine, einbändige Bestand enthält Korrespondenz zwischen der Familie und den Justizbehörden nach Lichtwers Verhaftung bzw. nach seiner Verurteilung sowie die monatlichen Briefwechsel zwischen Lichtwer und seiner Familie während seiner Haft. Über den Einzelfall hinaus stehen die Unterlagen beispielhaft für die politische Verfolgung von Studierenden in der Konsolidierungsphase des SED-Regimes.

Mehr zum Thema

  • Waldemar Krönig/Klaus-Dieter Müller: Anpassung, Widerstand, Verfolgung. Hochschule und Studenten in der SBZ und DDR 1945–1961, Köln 1994
  • Verband ehemaliger Rostocker Studenten e.V. (Hrsg.): Namen und Schicksale der von 1945 bis 1962 in der SBZ/DDR verhafteten und verschleppten Professoren und Studenten, Rostock 1994
  • Ilko-Sascha Kowalczuk: Geist im Dienste der Macht. Hochschulpolitik in der SBZ/DDR 1945 bis 1961, Berlin 2003