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Marta Hillers: Eine Frau in Berlin

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Marta Hillers, ca. 1933 (Foto: IfZArchiv, ED 934-1-3)

Marta Hillers, Moyland, Dietschy, Dietschy-Hillers, Madie, B., M., RS - hinter all diesen Namen, Pseudonymen und Abkürzungen verbirgt sich eine Frau, die seit dem Erscheinen des Bestsellers „Eine Frau in Berlin: Tagebuchaufzeichnungen vom 20. April bis 22. Juni 1945“ im Jahr 2003 als „Anonyma“ bekannt ist. Die Autorin, eine anonyme Berliner Journalistin, schildert darin ihre täglichen Erfahrungen im zerbombten Berlin kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Kapitulation der NS-Regimes steht bevor, die Rote Armee kämpft bereits in der Hauptstadt. Die Folgen für die weibliche Bevölkerung sind verheerend. Ihre im Präsens verfasste Chronik wurde vom Verlag nicht als Literatur, sondern als ein authentisches „Zeitdokument“ vermarktet, millionenfach verkauft und im Jahr 2008 verfilmt.

Wer war Marta Hillers?

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Anfang der 1930er Jahre hielt sich Marta Hillers längere Zeit in Russland auf (IfZArchiv, ED 934-1-14)

Marta Hillers (1911–2001) wächst in einer katholischen Familie auf, emanzipiert sich jedoch relativ früh vom bürgerlichen Leben. Im September 1930 tritt sie der KPD bei und leistet eine Zeit lang Propagandaarbeit für die Partei. Sie arbeitet bei der DEROP (Deutsche Vertriebsgesellschaft für Russische Ölprodukte) in Düsseldorf für die deutsche bzw. russische Parteipresse und geht sogar Ende 1931 als Redaktionssekretärin zu der staatlichen Bildagentur Sojusfoto nach Moskau.

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Ab Juli 1941 war Marta Hillers als Schriftleiterin für die Rheinische Verlagsgesellschaft tätig (IfZArchiv, ED 934-1-8)

Ihre Begeisterung für das kommunistische Experiment hält nicht lange an. Nach vielen Reisen durch Europa geht Hillers 1933 nach Frankreich, um dort ein Jahr an der Sorbonne Geschichte und Kunstgeschichte zu studieren. Danach kehrt sie in die Hauptstadt des inzwischen nationalsozialistischen Deutschlands zurück. Als freie Journalistin wirkt sie in ihrer neuen Rolle der Kleinpropagandistin im NS-Regime, schreibt für Zeitschriften der Deutschen Arbeitsfront und des Nationalsozialistischen Lehrerbundes.

Literarische Verarbeitung des Kriegsendes

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Die zahlreichen internationalen und deutschen Ausgaben des Buches „Eine Frau in Berlin“ füllen im Bibliotheksmagazin des IfZ mehrere Regalmeter

Mit 34 Jahren ist Marta Hillers Zeitzeugin für das Ende des „Dritten Reiches“. Sie hält ihre Erlebnisse zwischen Hunger und Gewalt zwei Monate lang in jenem Tagebuch fest, das zur Grundlage des späteren Bestsellers werden sollte. Ihr Freund Kurt W. Marek drängt Hillers einige Jahre später dazu, ihre Aufzeichnungen zu publizieren. Die erste Ausgabe des Tagebuchs erscheint 1954 in den USA anonym unter dem Titel „A Woman in Berlin“. Dem Debüt folgen Übersetzungen in zahlreiche Sprachen. 

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Die erste deutsche Ausgabe des Tagebuchs verkaufte sich trotz Werbung nur schlecht ( IfZArchiv, ED 934-12-80R)

Die erstmals 1959 auf Deutsch erschienene Ausgabe hatte nur eine kleine Auflage, die sich zudem schlecht verkauft. Möglicherweise ist Hillers mit ihrem dezidiert feministischen Blick und dem teils zynischen Ton ihrer Zeit voraus. In Deutschland wird das Buch erst Jahrzehnte später durch die Neuauflage von 2003 einem größeren Publikum bekannt.

Faszinosum und Rätsel zugleich

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Die Originalaufzeichnungen von Marta Hillers sind lange Zeit für die Öffentlichkeit nicht zugänglich (IfZArchiv, ED 934/2)

Jens Bisky von der Süddeutschen Zeitung enttarnt Anonyma 2003 als die am 26. Mai 1911 geborene Marta Hillers und unterstellt, Kurt W. Marek sei als Ghostwriter tätig gewesen. Die Kontroverse über den Wert der Chronik als zeithistorisches Dokument und über die ideologische Gedankenwelt der Verfasserin machen das Tagebuch zu einem publizistischen Rätsel, das viele Jahre nicht abschließend gelöst werden kann. Denn die Auseinandersetzungen beruhen vor allem auf Spekulationen und Unterstellungen - keiner der Protagonisten und noch nicht einmal die Verlage kennen die Originale des Tagebuchs. Den späten Erfolg in Deutschland ab 2003, ihre Enttarnung und die sich anschließende Debatte über Genese und Urheberschaft ihres Werkes erlebt Marta Hillers nicht mehr mit. Sie ist am 16. Juni 2001 im Alter von 90 Jahren verstorben. 

Das Original-Tagebuch im IfZ-Archiv

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Verfügung Marta Hillers, ihre Aufzeichnungen dem IfZ anzuvertrauen (IfZArchiv, ED 934)

Nach Hillers‘ Tod verbleiben das Tagebuch und dazugehörige Teile ihres Nachlasses zunächst bei der Familie Marek. Allerdings hatte Marta Hillers wohl schon früh den Entschluss gefasst, die Originalaufzeichnungen des Tagebuchs und alle weiteren dazugehörigen Materialien eines Tages dem Institut für Zeitgeschichte zu übergeben. Im Jahr 2016 kommt Max Marek, der Sohn des Ehepaars Marek, dem Wunsch der Autorin nach und übergibt die Unterlagen dem IfZ-Archiv. Der Teil-Nachlass enthält neben den originalen Tagebuchaufzeichnungen in drei Schulheften und einer Kopie des Typoskripts einige persönliche Dinge, Rechnungen, sämtliche Korrespondenzen, darunter mit Kurt W. Marek, sowie diverse internationale Ausgaben des Tagebuchs.

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Die Historikerin Yuliya von Saal mit dem Original-Tagebuch im Magazin des IfZ-Archivs

Die Historikerin Yuliya von Saal wertet den Nachlass intensiv aus und zeichnet erstmals den Transformationsprozess vom Tagebuch zum Bestseller detailliert nach. Von Saal arbeitet dabei heraus, wie sich der Text des Originaltagebuchs durch Anonymisierungen, nachträgliche Ausformulierungen von Gedanken, Gefühlen und Beobachtungen, den Einbau von Stilmitteln und dramaturgischen Aufladungen in mehreren Arbeitsschritten veränderte. Auf Basis der intensiven Auswertung des Nachlasses kommt die Historikerin zu dem Schluss, dass Hillers mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit die alleinige Autorin sowohl des Tagebuchs als auch des veröffentlichten Buches war.